Nachlass-Fundstücke Folge 4

von Apr 26, 2020Fundstücke aus dem Nachlass

Der Getriebene der dunklen Pflicht

von Christina Lemmen 

„Es kam ein junger Herr den durchsonnten Weg der städtischen Anlage entlang, sehr gut im Anzug. Er trug seinen hellen Paletot über dem Arm und hatte den weichen, grauen Hut etwas aus der Stirn gerückt, so dass man sein Gesicht deutlich erkennen und prüfen konnte. Eine sonderbare Art von Vornehmheit zeigte sich hier, die strengen Züge waren herb mit einem Anflug von spöttischer Gelassenheit.“

Waldemar Bonsels mit Paletot und Hut, Meran 1931; Fotografin: Rose-Marie Bachofen

Fast könnte man meinen, Waldemar Bonsels habe sich hier selbst beschrieben, wie er an einem sonnigen Tag durch den Berliner Tiergarten schlendert. Denn, wie Fotos belegen, ist auch er stets elegant gekleidet. 
Tatsächlich begegnen wir hier jedoch „Mortimer“Titelheld und Hauptfigur des einzigen Kriminalromans aus der Feder von Waldemar Bonsels. Erschienen ist das Buch 1946, die Idee dazu entstand jedoch nach eigener Aussage bereits zehn Jahre zuvor.

Das erste Kapitel von „Mortimer“ ist in der Tat fast wortgleich mit dem zweiten und dritten Kapitel des Romans „Die Reise um das Herz“, veröffentlicht 1938. Die übrigen Kapitel entstehen 1942 und 1943 in seinem Haus in Ambach. Bonsels sieht jedoch während des Zweiten Weltkriegs keine Möglichkeit zur Veröffentlichung. So landet Mortimer“ zunächst wieder in der Schublade, aus der er erst nach dem Kriegsende wieder hervorgeholt wird.

Die Romanhandlung spielt im Berlin der 1920er oder 1930er Jahre; eine Zeit, in der auch Bonsels häufig in der Hauptstadt weilte. Der stets korrekt gekleidete und kultivierte Mortimer, der auch unter dem Decknamen Baron de Sanchez als argentinischer Gesandter auftritt, ist ein Gentleman-Verbrecher. Er verkehrt in den höchsten Kreisen der Hauptstadt-Gesellschaft. Beim nächtlichen Einbruch in eine Bankiers-Villa gelingt ihm der Raub wertvollen Schmucks und einer hohen Summe Bargelds. Neben Mortimer taucht gleich zu Beginn die ihm treu ergebene, ebenso schöne wie intelligente und von Männern umschwärmte Geliebte Jolanthe Gordon, genannt „Jelly“, auf. Diese gehört als Bardame der „Atlantik-Bar“ ebenfalls zu den schillernden Gestalten des Berliner Nachtlebens. Beide umgarnen und verwirren im Laufe der Geschichte die Kommissare Groweland und Krux – es lohnt sich, die Namen der Charaktere dieses Romans näher unter die Lupe zu nehmen –, während sie mit ihnen über Verbrechen, Moral und Schuld diskutieren.

Manuskript Titelblatt „Der Getriebene der dunklen Pflicht“, um 1946

Die vermutlich ersten Entwürfe für den Roman finden sich in einem ledergebundenen Notizbuch, auf dessen Einband kunstvoll die Initialen „WB“ geprägt sind. Außerdem existiert eine „I. Reinschrift“, ein 250-seitiges Typoskript mit handschriftlichen Anmerkungen, das den Titel „Die Getriebenen der Dunklen Pflicht“ trägt. Unklar bleibt hier, welche der Figuren zu den „Getriebenen“ zählen. Die ebenfalls erhaltene „II. Reinschrift“ präzisiert: „Der Getriebene der Dunklen Pflicht“ mit dem Untertitel „Der Pantherpfad“.

Unter dem Titel „Der Getriebene der dunklen Pflicht“ entstehen 1949 auch Entwürfe für ein Drehbuch in Verhandlung mit den Alster Film Studios in Hamburg. Ohnehin legt die Erzählweise des Romans nahe, dass Bonsels dessen Verfilmung bereits beim Schreiben vorschwebte. Seit dem Biene Maja-Film mit realen Bienen und einer Filmexpedition nach Brasilien im Jahr 1924 wollte Bonsels unbedingt einen weiteren Film drehen. Die USA-Reise von November 1934 bis Mai 1935, die er auch unternommen hatte, um in Hollywood Fuß zu fassen, war in dieser Hinsicht kein Erfolg gewesen.

Fünfzehn Jahre und einen Weltkrieg später versucht Bonsels erneut sein Glück. Immerhin hatte er schon seit Mitte der 1920er Jahre Kontakte zur UFA in Berlin und über Freundinnen wie Pamela Wedekind und Brigitte Horney auch zu schauspielerischen Kreisen. Als Darsteller von Mortimer fasst er den Schauspieler und Intendanten Gustav Gründgens ins Auge. Jolanthe Gordon soll von dessen zweiter Ehefau Marianne Hoppe – in erster Ehe war Gustav Gründgens mit Erika Mann verheiratet gewesen – gespielt werden. Beide hatten während der NS-Zeit ihre Karrieren gestartet. Trotz intensiver Verhandlungen, auch mit internationalen Studios, kommt der Film nicht zustande, teils aufgrund mangelnder Finanzierung, teils wegen Bonsels‘ fortschreitender Krankheit.

Marianne Hoppe und Gustav Gründgens als Darstellervorschläge für Jolanthe und Mortimer, Notizbuch 1949

Auch das Buch ist in der Nachkriegszeit kein Bestseller. Vermutlich, weil er zu sehr in der vergangenen Zeit verhaftet ist. Zudem stellt er zwar nicht genuin politische, aber im Rezeptionskontext der Nachkriegszeit äußerst unangenehme Fragen nach Pflichterfüllung und Schuldverantwortung, denen man eher aus dem Weg geht. Spannend zu lesen ist der Roman jedoch auch heute noch. Ob Jelly und Mortimer den beiden Gesetzeshütern ins Netz gehen oder ob ihnen die Flucht samt erbeutetem Schmuck gelingt, dafür sei die eigene Lektüre empfohlen.

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