„Es ist eine völlig übertriebene Schauererzählung auf die ich selbst keinerlei Wert lege.“
– Waldemar Bonsels‘ erstes Werk „Château Corbeau“
von Christina Lemmen
Am 8. Oktober 1895 feiert Agnes Bonsels, die von ihrer Familie „Anni“ genannt wird, ihren 13. Geburtstag. Anscheinend hatte sie sich im Vorfeld von ihrem Bruder als Geschenk eine Geschichte erbeten. Seiner Lieblingsschwester kann der zweieinhalb Jahre ältere Waldemar diesen Wunsch nicht abschlagen.
So macht sich der Gymnasiast ans Werk und schreibt für sie „Château Corbeau – Erzählung im Auszuge“. Im Vorwort distanziert er sich sogleich – mit der großen Schriftstellergeste eines 15 Jährigen – von seinem Werk. Die Geschichte sei völlig übertrieben und nur auf Wunsch der Beschenkten entstanden, die von ihm verlangt habe „alles Schaurige, Gruseliche [sic!] und Unheimliche hineinzubringen“.
Immerhin scheint das Schreiben der Geschichte dann doch die Lust daran entfacht zu haben. Sechs Kapitel auf 90 Seiten enthält das schwarze Notizbuch. Zunächst schreibt Bonsels ein sehr sauberes Sütterlin, zum Ende hin wirkt die Handschrift etwas flüchtiger – vielleicht war der Geburtstag der Schwester schon nahegerückt und das Werk musste rechtzeitig fertig werden.
Ganz im Stil der damals populären Schauergeschichten wimmelt es in der Erzählung um das Schloss Corbeau (frz. Rabe, umgangssprachlich auch Priester) mit seinen dunklen, unheimlichen Gängen von Raubrittern und spukenden Geistern, die die SchlossbewohnerInnen in Angst und Schrecken versetzen. Nicht fehlen dürfen auch unglückliche, düstere Figuren – ein mysteriöser Fremder, ein verschwundener Graf und eine herzlose Baronin, über die im nahegelegenen Dorf Gerüchte flüsternd von Ohr zu Ohr weitergegeben werden; die Handlung nimmt bei einem Giftmord und verbotener Liebe Fahrt auf. Schon hier zeigt sich – beim Setting wie beim literarischen Personal und Motivik – Bonsels‘ Talent, modische literarische Strömungen aufzugreifen und für die Gestaltung seiner eigenen Werke zu nutzen.
Mit den Worten „Ende des Ersten Bandes“ schließt das frühe Werk. Ein zweiter Band war also offensichtlich zumindest geplant. Wie die Geschichte ausgeht, muss jedoch hinter den Schlossmauern verborgen bleiben. Denn ob Waldemar Bonsels einen zweiten Teil tatsächlich schrieb und diesen Anni eventuell zum 14. Geburtstag schenkte, ist leider nicht überliefert. Ein Château Corbeau existiert übrigens tatsächlich. Die Ruine aus dem 12. Jahrhundert liegt bei Meylan nahe Grenoble am Rande der französischen Alpen. Schlösser und ihre bisweilen unheimlichen wie verschrobenen BewohnerInnen sollten noch häufiger eine Rolle in Bonsels‘ späteren Werken spielen – etwa in „Wartalun/Die Toten des ewigen Kriegs“ oder „Mario und Gisela“.
Auch Anni, die Waldemar Bonsels von seinen vier Geschwistern am nächsten steht und mit der er lange einen Freundeskreis teilt, wird zur literarischen Figur. In „Tage der Kindheit“ verarbeitet er (angebliche) Kindheitserlebnisse zu humoristischen Anekdoten um kuriose Verwandte und freche Streiche. Das Buch erscheint 1931 und erlebt mehrere Auflagen. Zu diesem Zeitpunkt ist das gute Verhältnis zu der Schwester jedoch längst abgekühlt – Waldemar schafft es nicht nur, viele seiner engen Freunde früher oder später zu verprellen. Anni wohnt zudem mit ihrem Ehemann, dem Arzt Fritz Fliedner, zu dieser Zeit in Detmold, wo sie eine bürgerliche Existenz führen, während Bonsels zwischen München und Berlin verkehrt und seine literarische Karriere vorantreibt. Anders als die gute Beziehung der beiden Geschwister hat „Château Corbeau“ die Wirren der Zeit überlebt und wartet online auf neue LeserInnen.